Die Vorhalle der Kirche als Paradies

„Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir Paradiese sein“ (Christus während der Kreuzigung zu den Schächern, Neues Testament, Lukas 23,43)

Das Paradies als Dystopie und Utopie

Vielerorts wird der Vorhof oder die Vorhalle zu religösen Stätten „Paradies“ genannt. So heißt beispielsweise die Vorhalle des Lübecker Doms „Paradies“. Der Begriff nimmt auf den Weg der Gläubigen zum heiligen Ort, also den Kircheninnenraum, Bezug. Dass es sich um einen räumlichen Begriff handelt, wird dadurch unterstrichen, dass es in Lübeck, seit dem 14. Jahrhundert belegbar, eine Straße mit dem Namen „Fegefeuer“ (mit einer Seitenstraße zur „Hölle“) gibt, die zur Vorhalle des Lübecker Doms führt. Das Fegefeuer bezeichnet einen Ort der Läuterung oder Reinigung, den der Mensch gemäß der römisch-katholischen Theologie nach seinem Tode durchquert, bevor er in den Himmel gelangt. Dort wo die Vorstellung des Fegefeuers verworfen wurde, verschmilzt seine Begrifflichkeit mit dem Begriff des Paradieses. Mit Bezug auf die Vorhalle einer Kirche verweist die Bezeichnung „Paradies“ vorwärtsgerichtet auf das kommende Himmelreich. Seine rückwärtsgerichtete Entsprechung hat der Begriff „Paradies“ in der christlichen Lehre im Garten Eden, aus dem Adam und Eva mit dem Sündenfall vertrieben wurden. (Häufig waren die Vorhallen der Kirchen mit der biblischen Geschichte des Sündenfalls ausgemalt.)

Dementsprechend hat die Benennung der Vorhalle in Kirchen als „Paradies“ eine doppelte Funktion. Sie erinnert den Gläubigen beim Betreten der Kirche an den Sündenfall, daran selbst sündig zu sein, und zugleich an die Verheißung der kommenden Erlösung im Himmelreich durch die eigene Läuterung bzw. Reinigung im Kircheninnern durch Glaube, Beichte und Gebet.

Das Paradies als umzäunte Fläche, Garten und Vorhalle

Unter dem räumlichen Gesichtspunkt lässt sich ergänzen, dass religiöse Stätten in der Regel als besonders beeindruckender umgrenzter Bereich gekennzeichnet sind. Das Heilige, Reine und Mächtige entsteht durch Differenz, dem Anderssein, durch Abgrenzung vom Unheiligen, Unreinen und Machtlosen. Somit wird das Heilige, Reine und Mächtige, nämlich das Jenseits zugleich durch den Wunsch, den abgegrenzten, verbotenen Bereich aus dem Diesseits zu betreten, konstituiert. In das Allerheiligste dürfen eben nur Mönche, Priester und gottgleiche Herrscher oder der Zugang ist zeitlich begrenzt und wird von ihnen reglementiert.

Das Paradies ist ein Ort, an dem die Menschen sich aufhalten durften, bis sie daraus verbannt wurden. Dies macht bereits der ethymologische Ursprung des Begriffes deutlich. Im Altiranischen steht „pairi daeza“ für eine eingezäunte Fläche, im Hebräischen bedeutet „pardes“ einen von einem Wall umgebenen Baumpark. Die Griechen leiteten das Wort Paradies aus dem Persischen „pardez“ ab. In der griechischen Sprache meint „paradeisos“ einen Tiergarten, bzw. einen Park, so dass bereits in der Antike Gartenanlagen als „paradeisos“ bezeichnet wurden. Daher die Gleichsetzung des Garten Eden mit dem Paradies. Aus den heiligen Orten vorgelagerten (umzäunten) Gärten entstanden erst Vorhöfe (teilweise mit Brunnen zur rituellen Waschung und Reinigung) und später die Vorhallen von Kirchen (auch Narthex genannt).

Das Paradies als Gerichtslaube

Diese Funktion des Paradieses wird noch dadurch unterstrichen, dass die Paradies-Vorhallen, wie z.B. im Münsteraner Dom, als Gerichtslauben, d.h. ein überdachter, aber nach außen offener Bereich, verwendet wurden. (Erst später wurde die Paradies-Vorhalle des Münsteraner Doms an den Seiten durch Mauern baulich geschlossen.) Die Öffnung nach außen sollte eine transparente Rechtsprechung gewährleisten. So hält der Sachsenspiegel, das bedeutendste Rechtsbuch des Mittelalters aus dem 13. Jahrhundert, fest, dass Gericht unter freiem Himmel zu halten sei, um Heimlichkeit und Willkür zu vermeiden. Die Wahl der Vorhallen als Gerichtsort unterstreicht den Charakter des Paradieses als Ort der Reinigung der Gläubigen vor den Augen der Kirche, unter den Augen Gottes und vor dem Betreten des Kircheninnenraums. Dementsprechend sind über dem Eingang in das Innere des Paulus-Doms in Münster der Heilige Paulus mit Schwert und Christus mit zur Hand erhobenen Segensgeste zu finden. Beide Symbole sind doppelt zu lesen. Das Schwert des Heiligen Paulus, der als Dompatron zugleich dem Gebäude seinen Namen leiht, ist natürlich ein Attribut des Apostels und steht in erster Linie stellvertretend für seinen Märtyrertod durch das Schwert unter Kaiser Nero. Des Weiteren kann das Schwert aber auch als Symbol für den Vollzug des an diesem Ort gesprochenen Rechtes gelesen und die christliche Segnungsgeste als Darstellung von Christus als Weltenrichter verstanden werden. Christus steht dann als Sohn Gottes in Vorwegnahme des Jüngsten Gerichtes stellvertretend für das göttliche Gericht selbst.

Das Paradies als Mahnung und Verheißung

Der Begriff „Paradies“ bei den Vorhallen unserer Kirchen ist im Diesseits stets mit der Mahnung an den vergangenen Sündenfall im Garten Eden und der Verheißung des Himmelreichs im Jenseits verbunden und steht somit auch für das reinigende Gottesgericht, an das wir beim Betreten der Kirchen erinnert werden sollen. Der Weg durch die Paradies-Vorhallen im Diesseits ist zugleich ein transzendentaler Weg zum Paradies im Jenseits.

„Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir Paradiese sein“ (Christus während der Kreuzigung zu den Schächern, Neues Testament, Lukas 23,43)