Blickwechsel. Schrift, Zeit und Differenz in Hofmannsthals Chandos-Brief

Hugo von Hofmannsthals 1902 entstandener so genannter Chandos-Brief, ein fiktiver Brief an den englischen Philosophen, Schriftsteller und Staatsmann Francis Bacon (1561-1626), wurde immer wieder als Zeugnis einer Sprachkrise gelesen. Aber er ist mehr als das, nicht nur Ausdruck sprachlicher Décadence, sondern vor allem Dokument semiotischer Opazität von Schrift. Eine Schrift, welche bestimmt ist durch ihre starre, materielle Form einerseits und andererseits jenem von Derrida in der Grammatologie beschriebenen, prozessualen Zugriff, dem die ,temporalisierte‘ Lektüre den Text, in dem Versuch ihn zu penetrieren, aussetzt. Damit ist wieder jener paradoxe Zwiespalt von starrer ‚Bildlichkeit’ (Form/Raum/Materialität) und lesendem, stets anderem Zugriff (in der Zeit) angesprochen, in den jeder ‚Betrachter’ des Textes sich begibt. Diese Spaltung affiziert seine Integrität, geht Subjektivität selbst an.

Die im Chandos-Brief verwendete Blickmetaphorik deutet darauf hin, dass Lektüre – lange logozentristisch zu wenig beachtet – ein visueller Prozess ist, eine Form von Sichtbarkeit des literarischen Raums in der Zeit. Die „geistige Starrnis“ des Lord Chandos’, von der dieser befallen scheint, „die Starre meines Innern“, von der er schreibt (!), kann als Starren auf die „fremd[e] und kalt[e]“ Schrift selbst gelesen werden, als ein Versuch, dort noch einmal transparente Referenz herzustellen, wo sie aufgrund eines Mangels an Substantialität vergeblich zu suchen ist. Stattdessen ist hinter dem Bezeichnenden nur „Leere“ zu finden. Darüber hinaus entkoppelt die Schrift nicht nur das Bezeichnende vom Bezeichneten, sondern den Text auch von seinem Autor. So ist es selbst im ‚eigenen Text’ immer ‚ein Anderer’, der spricht. Das Subjekt des Textes ist nicht mehr das vorgängige, reale, (im wörtlichen Sinne) schreibende Subjekt vor dem Text. Somit dezentriert jede Wiederholungslektüre mit der Dissemination der Bedeutung zugleich seinen Verfasser. Sprach- und Schriftkrise, das dissipatorische Wirken von Zeit und die Spaltung des Subjekts sind wechselseitig aufeinander bezogen. Dennoch versucht Lord Chandos in einer Reminiszenz an eine frühere Unschuld der Sprache ausgerechnet schreibend, dem Freunde Francis Bacon sein „Inneres […] dar[zu]legen“. Es ist der paradoxal-verkehrte, starrsinnige, weil unmögliche Versuch, mittels Sprache einer unhintergehbaren (sprachlichen) Differenz zu entgehen:

„Ich möchte Ihnen so antworten, wie Sie es um mich verdienen, möchte mich Ihnen ganz aufschließen und weiß nicht, wie ich mich dazu nehmen soll. Kaum weiß ich, ob ich noch derselbe bin, an den Ihr kostbarer Brief sich wendet; bin denn ich’s, […] der mit dreiundzwanzig unter den steinernen Lauben des großen Platzes von Venedig in sich jenes Gefüge lateinischer Perioden fand, dessen geistiger Grundriß und Aufbau ihn im Innern mehr entzückte als die aus dem Meer auftauchenden Bauten des Palladio und Sansovin? Und konnte ich, wenn ich anders derselbe bin, alle Spuren und Narben dieser Ausgeburt meines angespanntesten Denkens so völlig aus meinem unbegreiflichen Innern verlieren, daß mich in Ihrem Brief, der vor mir liegt, der Titel jenes kleinen Traktates fremd und kalt anstarrt, ja daß ich ihn nicht als ein geläufiges Bild zusammengefaßter Worte sogleich auffassen, sondern nur Wort für Wort verstehen konnte, als träten mir diese lateinischen Wörter, so verbunden, zum erstenmale vors Auge?“

Vergänglichkeit und Vergessen, kurz, das temporalisierte Sein des Subjekts, treten dem Leser, Chandos, gegenüber den starren, ewig gleichen Graphemen der Schrift, die an der Schwelle eines Umbruchs vom 19. ins 20. Jahrhundert noch von dem vorgängigen Versprechen einer Lesbarkeit, einer singulären Sinnerwartung bestimmt werden, umso deutlicher vor Augen. Doch jenes kleine Traktat stellt Chandos eben nicht mehr ein „geläufiges Bild […] sogleich“ her, es zerfällt in disparate Elemente, die nur noch „Wort für Wort“ Sinn generieren. „Die wiederholte Lektüre“, schreibt Detlef Kremer, „fragmentiert den […] Text in heterogene Segmente“. Pejorativ wird im Chandos-Brief das Resultat einer wiederholten Lektüre unter dem Zwang beschrieben, dieselbe Geschichte erneut lesen zu wollen. Der Versuch zeitigt ein negatives Ergebnis, das Barthes in S/Z affirmativ umwertet, indem er erklärt:

„Lesen ist […] keine parasitäre Geste, keine reaktive Ergänzung einer Schrift, die wir mit dem Prestige der Schöpfung und des Vorhergegangenen schmücken. Es ist eine Arbeit (deshalb sollte man besser von […] einem lexeographischen Handeln sprechen […]): Ich bin nicht im Text verborgen, ich bin darin nur unauffindbar: […] Das Vergessen der Sinne ist kein Grund zur Entschuldigung, unglücklicher Mangel eines Vollbringens. Das ist ein affirmativer Wert, eine Art, die Unverantwortlichkeit des Textes zu behaupten, den Pluralismus der Systeme (wenn ich die Liste abschließen würde, würde ich zwangsläufig einen singularen, theologischen Sinn neu konstituieren): gerade weil ich vergesse, lese ich.“

Vergänglichkeit und Vergessen sind Folgen des dissipatorischen Wirkens von Zeit. Diese eröffnet im Augenblick, der im Chandos-Brief an so exponierter Stelle steht, in einem unhintergehbaren metonymischen Prozess eine Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit, von Anwesenheit und Abwesenheit.

Darin gleicht sie dem erweiterten Textbegriff der Dekonstruktion, also all dem, was in seiner materiellen Präsenz von etwas Abwesenden spricht. Die Zeit ist selbst eine Funktion des Textes. Der Text (Dinge im Raum, Subjektivität, Handlungen, Schrift, Sprache, Zeichen) verweist in/mit der Zeit. So gelingt es Chandos bald:

„nicht mehr, sie [Menschen und ihre Handlungen] mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.“

Das Starren des Subjekts auf die Schrift und die Begriffe (der Starrsinn, ihre Bedeutung feststellen zu wollen) werden invertiert. Die Worte selbst blicken nun als Zerrbild dessen, der sie zu fixieren sucht, mit einem temporalen Eigenleben erfüllt als Anderes zurück und ziehen das Subjekt mit in den Strudel, in dem sich nicht nur die transparente Repräsentation cartesianischer Ordnung, sondern auch ihre Dichotomie von autonomem Subjekt und heteronomem Objekt auflöst. Denn auch das Subjekt ist wie das Wort durch das (diskursiv) Andere bestimmt.

Sartre entwirft in seiner Schrift Das Sein und das Nichts (1943) die Abhängigkeit des ‚Subjekts’ vom Anderen anhand des Schismas von Auge und fremdbestimmendem Blick, auf das sich Lacan in seinem Seminar Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1964) bezieht. Lacan beschreibt den fremdbestimmenden Blick des Anderen, der dem Subjekt bewusst wird, als kastratorische Erfahrung, die das in seiner imaginären Allmachts- und narzisstischen Größenvorstellung getroffene Subjekt nichtet. Der Blick, der ihm seine Position im symbolischen Feld und im Diskurs zuweist, offenbart eine fundamentale Spaltung und legt die Macht- und Hilflosigkeit, die Heteronomie des autonom imaginierten Größenselbst bloß.

Analog wird bei Hofmannsthal Chandos von dem Blick der Schrift erfasst, in der er sich selbst als ihr Verfasser, respektive die vorgängig festgestellte Wortbedeutung zu lesen sucht. Doch das, was er sich zu suchen anschickt, ist stets ein Anderes, bereits metonymisch gegen sich selbst verschoben. So wird, schreibt Uwe Steiner in seiner Dissertation Die Zeit der Schrift (1996), das „lesende Subjekt […] zum gebannten Objekt, das seinerseits von den Zeichen gelesen wird“. Der Wirbel der Worte, an deren sichtbarer, graphischer Oberfläche der Starrblick des Lesers abprallt, löst einen vertiginösen Schwindel aus. Dieser ist auch im Sinne einer Lüge als Schwindel der vertikal-paradigmatischen Denotation lesbar. Nach Barthes ist die denotative Verbindung von Signifikant und Signifikat kennzeichnend für den klassischen Text, „jener überlegene Mythos, aufgrund dessen der Text so tut, als kehrte er zur Natur der Sprache, zur Sprache als Natur zurück“. Es ist dieser Zustand der Unschuld romantischer Provenienz, von dem Chandos zurückblickend schreibt:

„Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden, […] in allem fühlte ich Natur, in den Verirrungen des Wahnsinns ebensowohl wie in den äußersten Verfeinerungen eines spanischen Zeremoniells; in den Tölpelhaftigkeiten junger Bauern nicht minder als in den süßesten Allegorien; und in aller Natur fühlte ich mich selber; wenn ich auf meiner Jagdhütte die schäumende laue Milch in mich hineintrank, die ein struppiger Mensch einer schönen sanftäugigen Kuh aus dem Euter in einen Holzeimer niedermolk, so war mir das nichts anderes, als wenn ich, in der dem Fenster eingebauten Bank meines studio sitzend, aus einem Folianten süße und schäumende Nahrung des Geistes in mich sog.“

Mit dem Verlust der Unschuld der Sprache, welche morsch geworden, ihrer mimetisch-denotativen Kraft verlustig geht und nun nicht mehr in der Lage ist, Geschriebenes und Welt zur Deckung zu bringen, zerfallen Chandos auch verbal „die abstrakten Worte […] im Munde wie modrige Pilze“ und nehmen „plötzlich eine solche schillernde Färbung“ an, fließen „ineinander“. Die Worte werden zu einem wechselseitig verknüpften Textgewebe: „Ich konnte sie [die Begriffe] umschweben und sehen, wie sie zueinander spielten; […] sie hatten es nur miteinander zu tun“. Der Schwindel der Worte verstanden als „positives Faktum“ (Saussure) wird somit als „Lüge“ evident, ihr Ungenügen zur Verbalisierung einer singulären Wahrheit offenbar. Nicht ohne Komik ist es gerade solch verbale Wahrhaftigkeit, die Chandos’ von seiner „eine[r] kindische[n] Lüge“ überführten Tochter verlangt, doch

„dabei [nahmen] die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung an[…], daß ich den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn, das Kind allein ließ, die Tür hinter mir zuschlug und mich erst zu Pferde, auf der einsamen Hutweide einen guten Galopp nehmend, wieder einigermaßen herstellte“.

Die Beruhigung gelingt schweigend in der Unmittelbarkeit der Natur, von semiologischen und medialen Kalamitäten entfernt. Hier blitzt die romantische Verbundenheit mit den Dingen, Epiphanie als „Gegenwart des Unendlichen“ noch einmal auf, die in der Sprache nicht mehr zu haben ist. Im Gegensatz zur ‚präsenten Gegenwart’ der natürlichen Dinge im Augenblick, setzt die Sprache die Dinge, besonders deutlich in der Schrift, sogleich einer Temporalisierung aus.

Chandos fühlt beim Erhalt des Briefes Francis Bacons, „mit einer Bestimmtheit, die nicht ganz ohne ein schmerzliches Beigefühl war, daß […] [er] auch im kommenden und im folgenden und in allen Jahren dieses [s]eines Lebens kein englisches und kein lateinisches Buch [mehr] schreiben werde“. Dabei war – so lässt Hofmannsthal Chandos ironisch kolportieren – in einer Zeit sprachlicher Unschuld und subjektiver Integrität ein Werk mit dem Titel „Nosce te ipsum“, „Kenne Dich selbst“, in Planung, bevor Chandos deutlich wird, dass Erkennen immer zugleich Verkennen meint, das Subjektivität dezentriert.

Nichts zuletzt ist der Chandos-Brief selbst ein Schriftstück. Ironisch ist deshalb auch, dass sich die Sprachkritik, Problematisierungen des linguistic turn vorwegnehmend, in dem ihr eignen Medium, der Sprache, besser der Schrift vollzieht. Selbstreflexiv wird dessen Materialität als „kalte“, tote Oberfläche thematisiert, die zurückblickend ihre Attribute auf den seinerseits zum Objekt degradierten, (er-)starrenden Leser überträgt. Die Sichtbarkeit des ästhetischen Raums erlaubt überhaupt erst, jene Blickkonfiguration gegenüber den Graphemen der Schrift aufzubauen, die Opazität von Repräsentation augenscheinlich macht. Statt die Oberfläche zu durchdringen, um metaphysisch auf einen Sinn zu stoßen, zerstreut das ‚Subjekt’ seine Sinne nun auf ihr, hinter der sich eine transzendentale „Leere“ auftut. Die Worte treten untereinander in Beziehung. So antizipiert Hofmannsthal die strukturalistische Erkenntnis vom differenziellen „Verhältnisspiel“ der Begriffe, die „es nur miteinander zu tun“ haben, „aufeinander hindeuten, einander verstärken und verwischen, […] sich verstellen, […] wechselweise einander ihrer ursprünglichen Bedeutung entfremdend“. Gegenüber Saussure hat Hofmannsthal allerdings voraus, dass er die mediale Materialität nicht verdrängt und die ambivalente Metonymie des Augenblicks visuell und temporal herausstellt; Lektüre, Schrift und Subjektivität betreffend, trägt Hofmannsthal Visualität und Zeit in die Semiotik.