Die Fragmentierung des Signifikanten. Picassos Guitare, Partition, Verre

Wie Mallarmés Un Coup de Dés zeugen auch Picassos und Braques Arbeiten von einer Verschmelzung von Text- und Bildraum, indem sie das Wort als gleichberechtigtes Zeichen in die Malerei integrieren. Sie entwickeln mit dem Kubismus zudem eine neue Form der Anschauung, in der nicht nur, wie bei Cézanne, hybride Perspektiven das Bild konstituieren und Bildgegenstände in erster Linie tektonisch bildbauend, statt mimetisch abbildend zur Darstellung kommen, sondern sie zersplittern auch die Bildgegenstände facettenartig und zeigen deren verschiedene Ansichten simultan im Bild. Mit diesen Bildern, in denen Formales den Inhalt dominiert, wird die Aktivität des Betrachters eingefordert und zugleich ausgestellt.

Entscheidende Impulse für Picasso gehen von der umfassenden Werkretrospektive Cézannes im Pariser Herbstsalon 1907 sowie von der schwarzafrikanischen Plastik aus. Im gleichen Jahr entsteht das Ölbild Les Demoiselles d’Avignon mit deutlicher Bezugnahme auf Cézannes späte Badende, das mit der Weiterentwicklung dessen stereometrischer Formgebung, aber mit einem flächigeren Farbauftrag weitestgehend ohne sichtbaren Pinselstrich zu einer Vorform des Kubismus und zu einem Schlüsselwerk der Moderne wird. Insbesondere auf Braque macht das Bild nachhaltig Eindruck, regt ihn zur Auflösung von Gegenständlichkeit und Raumkonstruktion in kubenartigen Bildformen und zu einem künstlerischen Wettstreit mit Picasso an, aus dem die Bilder des analytischen Kubismus’ hervorgehen. Ließen sich diese insofern semiologisch lesen als sie eine fundamentale Differenz zwischen dem allusionistischen Bildraum und der Wirklichkeit etablieren, indem sie verschiedene Perspektiven räumlich simultan nebeneinander setzen, die Sinngenerierung verzögern und dem Betrachter deutlich die Illusion nehmen, Bilder ließen sich zeitlich simultan erfassen, so setzt mit der Wende zum synthetischen Kubismus und den Jahren 1911/12 eine Entwicklung ein, mit der sich der Raum der Wörter mit dem der Bilder vereint. Eine Entwicklung, mit der die Buchstaben als gleichberechtigte Zeichen Farbe, Form usf. beigeordnet werden. Diese Jahre führen bei Picasso und Braque zu einer Explosion der bildnerischen Mittel hin zu Sand und Gips, Zeitungspapier und Tapete, überhaupt zur synthetischen Integration von in den bildlichen Rahmen einfügbaren signifikanten Materials schlechthin.

In dem Jahr, in dem Saussure seine Vorlesung, den Cours de linguistique générale, beendet, vollzieht sich in der bildenden Kunst eine Wende, die die Innovationen Cézannes aufgreift, die aber, was diesem intuitiv gelang, die künstlerische Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Raum als eines semiologischen Feldes, bewusst Programm werden lässt. In der Folge wird ‚denotative’ Bildreferenz konnotativ in Mehrdeutigkeit aufgelöst, der Bildraum durch ein Oszillieren zwischen Bildtiefe und der Fläche des Malgrundes sichtbar gemacht. Er wird vom pseudo-realen Illusions-, zum artifiziellen Kunstraum, der mit seiner ambivalenten Referenz so niemals ‚wirklich sein könnte’, da er Perspektiven wie Gegenstände sich paradox durchdringen lässt, einen – wie Foucault ihn bezeichnet – heterotopen Raum schafft, der es, so schreibt er in Von anderen Räumen (1967) „vermag[,] an eine[m] einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind“.

Braque integriert 1911 erstmals Buchstaben in seine kubistischen Bilder – zunächst die noch vollständigen, lesbaren Worte „BAL“ und „BACH“ – dann beginnt er zusammen mit Picasso auch diese wie zuvor den Bildillusionismus zu zersetzen. Beide Künstler, beobachtetToni Stoss

„spielen […] mit […] Bedeutungsverschiebungen, die sich durch die fragmentisierte Verwendung des Wortes [bspw. von journal] ergeben: jou läßt im Französischen ‚jouer’ (= spielen) assoziieren, jour steht für den Tag und urnal klingt an ‚urinal’ (= Urinal, Pissoir) an“.

Der synthetische Kubismus, der im Jahr 1912 aus dem Wettstreit Picassos und Braques hervorgeht, mit dem sie den analytischen Kubismus hinter sich lassen, zeichnet sich durch die Einbeziehung neuen Bildmaterials wie Buntpapier- und Zeitungsausschnitten, Holzstücken oder Tapetenresten aus, womit die papiers collés entstehen, d.h. die Collagetechnik entwickelt wird. Einerseits hybridisiert diese Realität und Kunstraum, andererseits wird der Realitätsbezug der Objekte durch Fragmentarisierung, ‚Zweckentfremdung’ sowie Dekontextualisierung und Rekomposition sichtbar abgeschnitten. Nicht nur die innerbildliche Semiotik wird damit hinterfragt, das Bedeutungsspiel der Zeichen wird umkehrt auch auf alltägliche Wirklichkeit übertragbar.

Picasso und Braque machen die Willkür sichtbar, mit der Signifikant und Vorstellungen sich verbinden. Ihre Arbeit mit signifikantem Material stellt dessen semantische Offenheit aus, verweist auf die differentielle Natur von Bedeutungszuschreibungen und auf die Abhängigkeit der Zeichen von ihrem Kontext. Damit tritt sie in enge Beziehung zur Sprachwissenschaft. Roman Jakobson unterstreicht in seiner Retrospektive aus dem Jahre 1962 den eminenten Einfluss, den die Kubisten auf ihn und die linguistische Forschung ausübten:

„Those of us who were concerned with language learned to apply the principle of relativity in linguistic operations; we were consistently drawn in this direction by the spectacular development of modern physics and by the pictorial theory and practice of cubism, where everything ‘is based on relationship’ and interaction between parts and wholes, between color and shape, between the representation and the represented. ‘I do not believe in things,’ Braque declared, ‘I believe only in their relationship.’ The mode in which the signatum stands relatively to the signans, on the one hand, and to the denotatum, on the other, had never been laid bare so plainly, nor the semantic problems of art brought forward so provocatively as in cubist pictures, which delay recognition of the transformed and obscured object or even reduce it to zero.”

Exemplarisch lässt sich der reflektierte Umgang mit semiotischer Referenz anhand Picassos 1912 entstandener Collage Guitare, Partition, Verre aufzeigen. Bei diesem Bild tauchen die Mittel der Form, mit denen Cézanne Bildtiefe erzeugt, in vergleichbar paradoxalen Arrangements wieder auf. Für den Hintergrund verwendet Picasso eine Tapete mit Rautenmuster. Ähnlich wie auf dem Bild La Montaigne Sainte-Victoire entsteht durch die Beziehung zwischen vertikalen und horizontalen Strukturelementen sowie einer mit ihnen korrelierenden Diagonalen (hier durch das Koordinatensystem von vertikal angeordnetem Holzimitat, horizontalem, schwarzem Kreissegment und einer von ihrem Schnittpunkt ausgehenden Diagonallinie des Tapetenmusters) die Illusion von Tiefe, die je nach Blickpunkt des Betrachters aufscheint oder in die Planfläche des Papiers verflacht. Es zeugt vom besonderen Witz der Anordnung, dass das Volumen des Gitarrenkorpus’ auf diese Weise durch eine ‚Leerstelle’ signifiziert wird, die erst die Aktivität des Betrachters ausfüllen kann (ähnlich wie die Körper der Badenden in Cézannes Baigneuses). Einzig auf die stoffliche Qualität der Gitarre verweist das gemalte Holzfragment, das in seiner Oberflächenbeschaffenheit jedoch mehr einer Holznachbildung, denn wirklichem Holz ähnelt und sich damit, wie auch Ulrich Heimann bemerkt, als Surrogat eines Surrogates von Wirklichkeit zu erkennen gibt. Es ist darüber hinaus nicht nur in seiner Oberflächenmaterialität, sondern auch der Form nach verzerrt. Denn bei einer Gitarre ist typischerweise das obere konvexe Resonanzvolumen schwächer ausgeprägt als die untere Wölbung, die hier somit antiillusionistisch deformiert erscheint.

Die Kohlezeichnung des Glases, welche im Stil des analytischen Kubismus’ ausgeführt ist, bricht in anderer Art mit abbildhaftem Illusionismus. Sie verschränkt mehrere Perspektiven, Aufsicht und Seitenansicht, paradoxal miteinander und fragmentiert den Glaskörper stereometrisch. Als Bild im Bild, das die Weiterentwicklung der Bildsprache Picassos demonstriert, konfrontiert es die vorgängige kubistische Analyse und Dekomposition von Gegenständlichkeit mit den Stilmerkmalen des synthetischen Kubismus, die Guitare, Partition, Verre eignen und die sich von jener braun-grau gehaltenen, unbunten analytischen Periode durch eine Wiederkehr von Farbigkeit und eine Integration von heterogenen, zuvor ‚bildfremden’ Materialien auszeichnet. Hier werden drei verschiedene Zeichensysteme, Schrift, Notenschrift und Bild als analoge semiotische Systeme hybridisiert und insofern zersetzt, als ihre eindeutige Referenz auf Welt zugunsten von Mehrdeutigkeit unterminiert wird.

Die Zeitung zerschneidet Picasso und damit den materiellen Raum des Zeichens. Aus dem Signifikanten „LE JOURNAL“, wird „LE JOU“, das nun die Konnotation von „jouer“, spielen, und „le jeu“, das Spiel, bei sich führt. Im Kontext des Bildes verweist es auf den spielerischen Umgang mit dem Bildmaterial und auf das sich an ihm entzündende Feuerwerk der Signifikation. In dem Essay Das Lesen schreiben formuliert Barthes:

„Den Text öffnen […] heißt also nicht bloß fordern und zeigen, daß man frei interpretieren darf; das heißt vor allem, und weit radikaler, zur Erkenntnis führen, daß es keine objektive oder subjektive Wahrheit des Lesens gibt, sondern nur eine spielerische Wahrheit“.

Weiter ist bei Picasso zu lesen: ‚LA BATAILLE S’EST ENGAGÉ[E]“. Eine Überschrift, die sich, darauf weist Heimann hin, auf ein realpolitisches Ereignis bezieht, nämlich auf den Ausbruch des ersten Balkankriegs im Oktober 1912. Zugegebenermaßen ist das ein irritierender Zusammenhang, den Guitare, Partition, Verre hier herstellt. Näher liegend wäre es, den Beginn des Kampfes zu beziehen auf den Wettstreit von Bedeutungssetzung und -verweigerung, den die referentiell konkurrierenden Bildelemente auslösen, oder aber auf die Konkurrenz zwischen Picasso und Braque, den jener mit seinem papier collé zu einer künstlerischen Erwiderung herausfordert. Zudem lässt das Satzfragment sich als eine Kampfansage an die (illusionistische) Malerei lesen, die Picasso mit seiner Collage verkündet.

Nicht nur eine ambivalente Wortkonnotation ist also hier im Spiel, sondern auch kontextuelle Doppeldeutigkeit: Die Bedeutung des Satzes wie der gegenstandsfernen Formen (die des schwarzen Kreissegments, des blauen Rechtecks, des weißen Kreises etc.) wird erst durch den Kontext hergestellt. Das Schallloch ist in einer inversen Verkehrung nicht (wie erwartet) dunkel, sondern hell ausgeführt. Es ist statt einer Leerstelle im Austausch mit dem Gitarrenkorpus selbst stofflich, die Erkenntnis der Kubisten wachrufend, dass Konvexes durch Konkaves, Körper durch Aussparung signifiziert werden können.

Die Farbe Blau verbindet sich in Picassos Bildern zwischen 1912 und 1914 häufig mit der Darstellung von Musikinstrumenten. Auch auf Guitare, Partition, Verre tritt sie unmittelbar zusammen mit Partitur und Schallloch auf, wird von ihnen überlappt. Blau ist nicht nur eine in ihrem Farbort entfernte Farbe – weshalb sie selbst symbolisch für das Fernste steht, das dennoch anwesend ist – sondern steht auch für die gegenstandsferne Präsenz von Musik. Musik ist gleichsam ästhetisches Programm. Es ist die Kunstgattung, die von vornherein, anders als Literatur und bildende Kunst, nicht den Anspruch auf Eindeutigkeit erhebt, sie spielt in und mit ihrem ästhetischen Material. In ihr klingen Erinnerungen an, sie ist per se jene Imaginationsfläche, mit der in diesem Bild die Farbe Blau korreliert. So vieldeutig wie die Musik ist auch das Textfragment des Partiturausschnitts „dant qu’ê-tes bel“, das eine Schönheit benennt. Die der Geliebten? Der Kunst? Des Bildes? …

Picasso bedient sich in Guitare, Partition, Verre der ästhetischen Mittel der Inversion und der Deformation sowie der Hybridisierung verschiedener Perspektiven. Hintergrund und Gegenstand fallen beispielsweise zusammen. Das Bild springt zwischen Flächigkeit und Tiefe bzw. Volumen hin und her und spannt einen Raum auf, der das arbiträre Verhältnis von Signifikant und Signifikat, ein Gleiten des Sinns ausstellt und reflektiert.

Musik, Bild und Schrift, hier als gleichermaßen semiotisch offene Medien dargestellt, stehen nebeneinander. Unter diesen wird vor allem die historische Entwicklung der Bildkünste vom mimetischen Illusionismus zur diskontinuierlichen Perspektive des analytischen Kubismus’ zitiert und ironisch gebrochen, um in der Hybridkonfiguration des synthetischen Kubismus aufzugehen. In der höchst heterogenen Textur der Collage wird, so schreibt Heimann

„eigenhändig Gezeichnetes […] mit einem Zeitungsausschnitt, wirkliche Tapete mit imitiertem Holzfunier, mit der Schere Geformtes mit einem Partiturfragment zu einer äußerst widersprüchlichen Einheit gefügt. Entsprechend heterogen sind die verwendeten Techniken: Malen mit Pinsel und Malerkamm, Zeichnen mit Kohle, Schneiden und Kleben“.

Picasso intendiert ein Vexierspiel von Erkennen und Verkennen: Er spielt einerseits an auf eine Gitarre, die an einer tapezierten Wand hängt, andererseits lassen sich Teile des Arrangements, Zeitung, Kohlezeichung und schwarzes Kreissegment in Verbindung mit dem Tapetenmuster auch als ‚Gedeck’ deuten, als Zeitung und Teller nebst Weinglas auf einem geblümten Tischtuch. Liegt die Gitarre auf einem Tisch?

Der Signifikant Tapete deutet auf eine reale Tapete hin sowie auf das Abbild einer Tapete, aber er bedeutet zugleich auch ein Tischtuch oder das Volumen eines Gitarrenkorpus’; „so geht der Text vorbei: eine Benennung im Werden, eine unermüdliche metonymische Arbeit“, schreibt Barthes in S/Z. Immer wieder tritt Asemie ein, und der Betrachter sieht sich zu einer Relektüre des nicht stillstellbaren Bildes veranlasst.