Die Sichtbarkeit des ästhetischen Sprach-Raums als Folge veränderten Sprachbewusstseins

Saussure lässt sich als strukturalistischer Apologet der Denotation sowie der langue charakterisieren, der mit der Eindeutigkeit des immateriellen Zeichens als „positivem Faktum“ operiert, jedoch zugleich ein Bewusstsein für die relative, differenzielle Bedingtheit von Sprache schafft. Gerade anhand der Widersprüchlichkeiten der Saussure’schen Theorie, in dem Versuch, Subjektivität und zeitlich bedingte Differenzialität systematisch abzufedern, wird eine nachhallende Sehnsucht nach sprachlicher Unmittelbarkeit und Präsenz offenkundig, die jedoch nur den Glaubensverlust an die Sprache, der bezeichnend für die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist, umso deutlicher zeigt. Fortan ist mit einem Mangel an Beständigkeit und Substantialität des Zeichens, d.h. mit einer mangelnden, ihm wesentlichen Bedeutung zu rechnen.

Der Sprachskeptizismus der Jahrhundertwende setzt eine Entwicklung in Gang, die, von Friedrich Nietzsche, dem Impuls der Linguistik und der Semiologie Saussures ausgehend, über Ludwig Wittgenstein u.a. eine Wende markiert, die heute mit Bezugnahme auf einen Essay Richard Rortys unter dem Namen linguistic turn firmiert und besonders seit den 60er Jahren die Geistes- und Kulturwissenschaften befeuert. Ihm eigen ist einerseits eine weitreichende Skepsis, ob Wirklichkeit sich mit dem Medium Sprache erfassen und kommunizieren lässt. Andererseits begreift der linguistic turn Sprache als unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit von Erkenntnis. Daraus ergibt sich ein aporetischer Zirkel, denn das, was notwendige Voraussetzung von Erkenntnis ist, bildet gleichzeitig das Objekt sprachphilosophischen Zweifelns. Deshalb muss das Denken – in der Hoffnung der Problematik sprachlicher Repräsentation dadurch ein Stück weit zu entgehen – seine eigenen sprachlichen Voraussetzungen mitreflektieren, müssen Sprache und ihre Mittel Bedeutung zu schaffen, zugleich Objekt und metasprachliches Instrument ihrer eigenen Beschreibung und Reflexion sein. Mit dem linguistic turn wird Sprache selbst zum Gegenstand des Denkens.

In dem Maße, in dem Sprache als Voraussetzung jeglichen Denkens zu Bewusstsein tritt, wird deutlich, dass eine Wirklichkeit jenseits von ihr nicht existent oder unerreichbar ist, und umgekehrt, dass sprachliche Äußerungen selbst erst Wirklichkeit schaffen. Das Wissen um die wirklichkeitskonstitutive Funktion von Sprache im Besonderen und Medien im Allgemeinen erwächst aus dem sprachphilosophischen Diskurs und ist neben dem Abgesang auf Etymologie, dem Glauben an transparente Repräsentation und sprachliche Substantialität weiteres Charakteristikum des sich mit der Jahrhundertwende verändernden semiotischen Bewusstseins, das dementsprechend auch das sprachliche Kunstwerk und analog dazu das repräsentierende Bild betrifft. Als Konsequenz verändern beide sich dahingehend, nicht nach einer unmöglichen Abbildung von Wirklichkeit zu streben, sondern vielmehr eigene Welten zu konstruieren. Die Selbstreflexion der eigenen Bedingungen führt zu einer Sichtbarkeit des ästhetischen Raums, der die Mittel der Darstellung und die notwendige mediale Materialität des Kunstwerks aufscheinen lässt. Wer nach 1900 die Medialität von Bild und Text ernst nimmt, kann nicht mehr unhinterfragt ein mimetisches ,Was stelle ich dar?‘ zur Zentralstelle der Kunst machen, sondern muss, wie Derrida es formuliert, von der Vorstellung unmittelbarer „Präsenz“ Abschied nehmen, Sprachkritik betreiben und thematisieren, wie und inwiefern Zeichen Bedeutung generieren. In ihrer Dissertation Zur Textualität der Kunst im 20. Jahrhundert (2005) fasst Christiane Litz die Folgen des linguistic turn prägnant zusammen:

„Die veränderte Einstellung zum Zeichen manifestiert sich in Fragen wie: Welche Funktion hat die Schrift? Wie wird Sinn produziert? Wie wird Bedeutung erzeugt? Zum Ende des Jahrhunderts führt das Interesse an dem Akt der Bedeutungsherstellung zu einer Konzentration auf den Begriff der Materialität. Die Erkenntnis, dass die Welt nicht unabhängig von den Bedingungen des Sprechens gegeben ist, sowie die ‚Entdeckung’ und Inthronisierung des Signifikanten, lässt die Semiologie an Einfluss gewinnen […].“ „War bis zum sogenannten linguistic turn Sprache das Instrument der Untersuchung, wird sie im Zuge einer Analyse, die ihre eigene sprachliche Verfasstheit immer mitdenkt, nun selbst zum Objekt. Die Frage ‚Was bedeutet es?’ wird von den (Post-) Strukturalisten in: ‚Wie wird Bedeutung hergestellt?’ umgewandelt. Die ‚Revolte’ dringt an ihr ureigentliches Medium.“